Petrus Iverni von Sieglar (geb. vor 1166)

geschrieben von Peter Haas

 

In diesem Jahr jährt sich zum 1175. Mal die erste schriftliche Erwähnung der Namen Sieglar und Eschmar. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Zeilen schickt sich der Ortsring Sieglar an, das Ereignis gebührend zu feiern. Anlass genug, nach der vermutlich ersten Sieglarer und damit auch Troisdorfer Person, die namentlich bekannt ist, zu forschen. Sie hieß „Petrus Iverni de Sigelar“. „Iverni“ ist, darin stimme ich Karl Corsten (s. u. S. 6) zu, als Genitiv des damals bei uns gebräuchlichen Personennamens „Ivern“ anzusehen, so dass wir es mit „Petrus (Sohn) des Ivern von Sieglar“ zu tun haben. Im Troisdorfer Raum war es Matthias Dederichs, der erstmals auf Petrus hinwies.

Er wiederum berief sich auf Heinrich Wipper, den langjährigen Geschäftsführer der Sankt-Jakobus-Bruderschaft und einen der besten Kenner der Jakobswege. Wipper hatte 1985 im ersten Heft der Kalebasse, der Zeitschrift seiner Bruderschaft, über „Rocamadour und die Jakobuswallfahrt“ und ein Jahr später, im Mai 1986, über das gleiche Thema in „Frau und Mutter“ geschrieben. Darauf bezog sich Matthias Dederichs, als er im „Troisdorfer Jahresheft“ Nr. XIX von 1989 über den „Sieglarer Pilger in einem französischen Wunderbuch von 1172“ schrieb. Im Anschluss an eine Pilgerfahrt, die ihn unter anderem nach Rocamadour führte, druckte M. Dederichs in der Zeitschrift des Heimat- und Geschichtsvereins Troisdorf, „Heimat und Geschichte“, Nr. 31, 2003, seinen Artikel, erweitert um einige neue Erkenntnisse, erneut ab. Als ich 2004 den Vorsitz im Heimat- und Geschichtsverein übernahm, setzte ich die Suche nach Petrus Iverni fort, da mich das Thema fasziniert und ich mich mehrmals im Jahr in Frankreich aufhalte. Darüber berichtete ich in „Heimat und Geschichte“, Nr. 35, Juni 2005. Da die wenigsten Leserinnen und Leser die eben aufgeführten Schriften zur Hand haben werden, möchte ich diese früheren Erkenntnisse gemeinsam mit meinen neuen darstellen:

Rocamadour liegt in Frankreich am Westabhang des Zentralmassivs über dem Flüsschen Alzou in der historischen Landschaft Quercy, die heute zum Departement Lot, Hauptstadt Cahors, gehört. Dort hatte sich im 10. Jahrhundert ein Mönch in einer Höhle niedergelassen und eine Stätte der Marienverehrung gegründet. Gut 100 Jahre später, nachdem sich um sein Grab weitere Gräber geschart hatten, wurde dieser Ort regional bekannt und, zumal er auf einem der vielen Wege nach Santiago de Compostela gerne aufgesucht wurde, schließlich ein eigener Wallfahrtsort, an dem sich zahlreiche Wunder ereigneten. Seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde der Eremit als „St. Amadour“ verehrt. Mittelpunkt der Verehrung blieb jedoch immer die Madonna. Nur ihr wurden die Wunder zugeschrieben, die sich alsbald zahlreich ereigneten. Im Jahre 1166 beauftragte Géraud d´Escorailles, Abt der Benediktinerabtei Tulle, zu der Rocamadour gehörte, einen seiner Mönche, alle Wunder aufzuschreiben. Bis 1172 verzeichnete er 126 Wunder in seinem Buch, das in drei Abschnitte gegliedert ist. Darin geht es um wunderbare Heilungen von Gebrechen, Krankheiten, Verletzungen, Rettungen aus Seenot, Unwettern und allem anderen, wozu die Menschen damals das Eingreifen Gottes und die Fürsprache Marias erflehten. Ein Wunder, das sich von allen anderen abhebt, ist dasjenige, das sich mit Petrus Iverni ereignete. Es ist das 34. Wunder im ersten Teil (Edmond Albe S. 142). In Anwesenheit zahlreicher Pilger spielte Petrus auf seiner Fidel ein Loblied auf die Madonna. Schließlich erbat er ein Zeichen ihrer Gnade. Daraufhin senkte sich von der Madonna hinunter auf sein Instrument ein „cereus modulus“, modelliertes Wachs, eine Votivgabe aus Wachs. Der Vorgang erboste den Aufsicht führenden Mönch, der wohl auf Ordnung in seiner Kirche bedacht war. Er nahm das Wachsmodell und setzte es wieder hinauf zur Madonna. Als Petrus sein Spiel fortsetzte, ereignete sich dasselbe. Und nachdem der Mönch das Modell erneut an Ort und Stelle gesetzt hatte, geschah das Wunderbare zu seinem Ärger ein drittes Mal. Die Menschen rundum aber waren begeistert und trugen Petrus mit Lobpreisungen durch den Ort. Seitdem soll er jährlich nach Rocamadour gekommen sein, um der Madonna eine Wachsfigur zu widmen.

Gustav Schnürer meint in seinem Aufsatz „Die Spielmannslegende“ (s. u. Schnürer S. 81), ein Spielmannswunder in Lucca im Angesicht des „volto santo“ (des „Hl. Antlitzes“, eines volksreligiös bedeutenden Kruzifixes) sei dem von Rocamadour voraufgegangen. Ich halte das von Rocamadour für das ältere, da es in Lucca ausdrücklich heißt, ein Spielmann aus Frankreich sei nach Lucca gekommen und diesem sei das Wunderbare widerfahren. Dass das „Kerzenwunder“ von Frankreich aus verbreitet wurde, wird vor allem daran deutlich, dass laut Edmond Albe (s. u. S. 285) die Mönche von San Micheletto in Lucca bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (und vermutlich auch bis heute) eine Armreliquie des St. Amadour haben. Schließlich gibt Schnürer auch zu erkennen, dass ihm gar nicht bewusst war, dass die Begebenheit aus dem Wunderbuch von Rocamadour stammte. Er spricht lediglich von einer „französischen Legende“ bzw. „lateinischen Erzählung“ (beides s. u. Schnürer S. 81). Einige Jahrzehnte nach dem Erscheinen des Wunderbuchs von Rocamadour griff Gautier de Coinci, Prior in Soissons und ein bedeutender Trouvère – so heißen die Troubadoure in Nordfrankreich –, das Wunder des Petrus Iverni auf und machte daraus das „Kerzenwunder“ des „Spielmanns Pierre de Syglar“. Bald danach nahm sich in Spanien König Alfons X. von Kastilien und Léon mit den bedeutenden „Cantigas de Santa Maria“ der Marienverehrung an. Er beauftragte mehrere Troubadoure mit dem Werk und schrieb vielleicht selbst das Kerzenwunder. Dabei machen der Spanier und der Franzose in der Darstellung der Person des Petrus Iverni einen kleinen aber feinen Unterschied. Während Gautier de Coinci vom berühmten Spielmann Petrus Iverni spricht, nennt König Alfons ihn einen armen Spielmann (s. a. Corsten 1 S. 9). Das sind, so scheint es, Aussagen, die sich widersprechen. Wenn man sie jedoch als rhetorische Floskeln begreift, gleichen sie sich: Sogar einem „armen“ Spielmann, sagt der eine, gelang es, die Madonna zum Kerzenwunder zu bewegen, während der andere einen „berühmten“ Spielmann bemüht, um zum selben Ergebnis zu kommen. Das ist zwar nur eine Marginalie, aber sie hilft uns zu verstehen, warum sie ausgerechnet dieses Wunder und nicht etwa das von Schiffbrüchigen oder Sterbenskranken als Motiv wählten. Während im Wunderbuch selbst nur von Petrus Iverni de Sigelar die Rede ist, der sich mit seinem Spiel zu ernähren sucht, machen beide aus ihm einen Dichter und Musiker, jemanden wie sie also. Das ehrt nicht nur die Madonna, sondern auch die Dichter. Der Spielmann Petrus Iverni von Sieglar steht stellvertretend für sie selbst in der Verehrung der Madonna. Dieses augenfällige Symbol bewegte die Herzen der Gläubigen so sehr, dass es im Verlauf von Jahrhunderten immer wieder gedruckt wurde und die Autoren ebenso wie die Kommentatoren – angefangen von Gautier de Coinci im 13. Jahrhundert bis zu Carl Corsten (s. u. Corsten 1, S. 8) und anderen im 20. Jahrhundert – meinten, Petrus Iverni selbst sei nicht nur irgendein Sänger gewesen, sondern ein bedeutender Spielmann: „Il était de grand renom“ schreibt Gautier anfangs des 13. Jahrhunderts („er hatte ein großes Renommee“).

Zum besseren Verständnis halte ich einige Hinweise in Sachen „Spielmann“ für angebracht: Carl Corsten schreibt: „Die altdeutsche Sprache fasst sämtliche unterhaltenden Künste (Erzählung, Gesang, Musik, Mimik, Tanz) unter dem Begriff „Spiel“ zusammen. „Spielmann“ heißt jeder, der solche Künste berufsmäßig ausübt, sowohl der ritterliche Minnesänger und Troubadour wie auch der Fiedler, Sänger und Tänzer auf dem Jahrmarkt“ (Corsten 1, S. 7). Die entsprechende französische Bezeichnung ist „jongleur“, abgeleitet vom lateinischen „ioculator“. Gautier de Coinci spricht vom „jougleour“, andere benutzen den Begriff „ménestrel“, abgeleitet vom lateinischen „ministerium“ = „Dienst“. Da mit den Begriffen in dieser frühen Zeit im Gegensatz zu später noch keine Wertung verbunden ist, war es nahezu selbstverständlich, dass König Alfons und Coinci zu ihren unterschiedlichen Einschätzungen des Petrus Iverni kamen.

Da ich schon dabei bin, mögliche Missverständnisse aus dem Weg zu räumen, scheinen mir auch einige Hinweise zur Frage der Wunderbücher bzw. Wunder an dieser Stelle angebracht. Wir „aufgeklärten“ Menschen von heute, die wir rund 250 Jahre nach dem Beginn des Zeitalters der Vernunft leben, haben überwiegend nur ein müdes Lächeln für Wunderbücher übrig und nennen sie gerne auch Mirakelbücher, um unsere Distanz von ihnen zum Ausdruck zu bringen. An Wunder mögen nur noch die wenigsten glauben, wenn sie auch in der katholischen Kirche von heute weiterhin bedeutend sind als Mitteilung übernatürlicher Wahrheiten und Selbstmitteilung Gottes. Ich als geborener Skeptiker habe mich in jungen Jahren von dieser Vorstellung entfernt. Aber durch Dichter wie Shakespeare („Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt“) und nicht wenige Naturwissenschaftler gerade des 20. Jahrhunderts, die, je mehr Geheimnisse sie der Natur abrangen, umso stärker zum Glauben fanden, habe ich bei mir Bereitschaft zum Glauben an Wunder wiederentdeckt. Aber nicht deshalb habe ich mich mit dem Wunderbuch von Rocamadour befasst, sondern weil diese Wunderbücher für uns Menschen von heute Mitteilungen über die ganz andere Mentalität der Menschen damals enthalten und dabei helfen, sie besser zu verstehen. So können wir davon ausgehen, dass die Mönche, die die Wunderbücher niederschrieben, dies äußerst sorgfältig taten und dass ihre Berichte in Bezug auf Namen, Orte und Ereignisse den Tatsachen entsprechen. Einschränkend gilt lediglich, dass im 12. Jahrhundert das Geschehen auf der Erde voller göttlicher Eingriffe und damit voller Wunder war. Nicht allen wird der Gläubige von heute zustimmen wollen. Am wenigsten dem Kerzenwunder, das man sich auf die einfachste Weise als ganz natürlichen Vorgang erklären kann (weil z. B. die Wachsmodelle durch Wärme weich wurden und deshalb herunterfielen). Doch für die Menschen damals, die Wunder förmlich herbeisehnten, bestanden keine Zweifel daran. (Die gegenwärtige Hirnforschung sagt uns, dass wir die Dinge nicht so sehen, wie sie uns vor Augen kommen, sondern so, wie das – vorgeprägte – Gehirn die Wahrnehmung „verarbeitet“. Dem Spötter und Philosoph Lichtenberg fiel zu diesem Problem folgender Aphorismus ein, mit dem er einen Altphilologen aufs Korn nimmt: „Er (der Altphilologe) las immer „Agamemnon“ statt „Angenommen“, so sehr hatte er seinen Homer gelesen.“) Für die Menschen des 12. Jahrhunderts gehörten Wunder zum zentralen Lebensinhalt. Warum? (Wunderbücher gab es schon seit dem 4. Jahrhundert vor Christus, beginnend mit den Iamata von Epidauros.) Die westeuropäische Tradition gipfelte im 12. Jahrhundert und steht in der Tradition der Wunderberichte des Gregor von Tours über den Hl. Martin aus dem 6. Jahrhundert. Sie geht also von Frankreich aus und ist nicht ohne den Reliquienkult, mit dem sie in direktem Zusammenhang steht, zu erklären. „Die wahre Religion des Mittelalters … das ist der Reliquienkult. Für die Masse der Menschen beruht alles Göttliche in der Verehrung der Reste von Heiligen oder in Gegenständen, die Jesus oder der Jungfrau gedient haben“, schreibt A. Luchaire (zitiert nach: Peter Bernards S. 50). Handel mit Reliquien hatte es – vorwiegend von Italien nach Norden – in der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends ständig gegeben. Im 12. Jahrhundert steigerte sich dieser Handel zu einem nie zuvor erlebten Ausmaß. Was war geschehen?

Die Christen des 12. Jahrhunderts glaubten inbrünstiger an Gott als jemals zuvor oder danach und erst recht heute. Der Papst als der Stellvertreter Gottes auf Erden war nicht nur das Oberhaupt aller katholischen Christen, sondern er verstand sich in dieser Zeit auch als oberster Lehnsherr der Herrscher Europas. Beflügelt wurde er durch die Befreiung von weltlichem Einfluss mit der Reform von Cluny, die Einnahme Jerusalems 1099 und die dortige Errichtung eines christlichen Königtums. Ähnliche Wirkung hatte die allmähliche Rückeroberung Spaniens von den muslimischen Mauren, die der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela ihre Kraft verlieh. Bedeutende Gestalten wie Hildegard von Bingen und mehr noch Bernhard von Clairvaux mit seiner Forderung nach unbedingter Askese bestimmten den Geist der Zeit. In Paris war es Abaelard, der auf akademischer Ebene versuchte, das Geheimnis des Glaubens mit Vernunft zu ergründen. Mauritius Mittler schreibt (Mittler 2 S. 22), dass die Reliquienverehrung als Gegenbewegung gegen den Rationalismus (der Scholastiker wie Abaelard) entstanden sei. Denn der überwiegende Teil der Menschen, dem Lesen und Schreiben fremd war, wandte sich in einer ihm unbegreiflichen Welt, in der es gegen Krankheit und Elend kaum ein Gegenmittel gab, den Heiligen zu, die ihm beistehen sollten. Unmittelbar am Grab eines Heiligen beerdigt zu werden, am liebsten mit ihm in der Kirche und wenn nicht dort, dann an der Kirche, solche Fragen bedrängten die Menschen. Wer sich den Heiligen oder den Reliquien der Heiligen näherte, erhoffte sich Fürsprache von ihnen auf Erden und beim Jüngsten Gericht. Aus diesen Motiven „verbrachte“ in eben diesem Jahrhundert der Reichskanzler und Erzbischof von Köln, Reinald von Dassel, die Gebeine der Hl. Drei Könige 1162 von Mailand nach Köln und machte damit Köln zum vierten der großen Wallfahrtsorte Europas – nach Jerusalem, Rom und Santiago. Nicht anders dürften die Motive des französischen Königs Ludwig IX., des Saint Louis, gewesen sein, als er dem lateinischen Kaiser Balduin in Byzanz eine Dornenkrone, die man für die von Christus hielt, für ein Mehrfaches an Geld abkaufte, als der gotische Prachtbau kostete, in dem sie danach aufbewahrt wurde, die Ste. Chapelle auf der Cité in Paris. (Später gelangte sie dann nach gegenüber in die Kathedrale Notre-Dame, wo sie heute noch ist.)Unauflösbarer Bestandteil der Heiligen- und Reliquienverehrung waren die Wallfahrten. Sie nahmen ein Ausmaß an, das uns heute unvorstellbar ist. Nicht selten ohne Rücksichtnahme auf ihre familiären und wirtschaftlichen Verhältnisse begaben sich die Gläubigen auf wochen- und monatelange Reisen, um zu dem magischen Ort „ihres“ Heiligen zu gelangen. Den Zielorten brachten die Wallfahrten höchstes Ansehen der gesamten Christenheit und wirtschaftlichen Erfolg. So wurde auch aus dem abgelegenen Rocamadour ein ansehnlicher Wallfahrtsort, der bis ins Rheinland und darüber hinaus berühmt wurde.

Um den Ruhm noch zu vermehren, begann man, die Wundertaten, die sich vor Ort ereigneten oder die dort berichtet wurden, aufzuschreiben. Den Anfang machte das damals wirtschaftlich bedeutende St. Gilles (St. Ägidius) im Delta der Rhone im Jahre 1126. (Dort soll es damals so viele Bankhäuser gegeben haben wie heute in Frankfurt/Main.) 1166 folgte Rocamadour, wie bereits oben dargelegt. Der von seinem Abt beauftragte Mönch schrieb getreulich alles auf, was er in den nächsten sechs Jahren erlebte oder was ihm berichtet wurde. Es ist erstaunlich, wer alles vom Rheinland aus den Felsen des St. Amadour besuchte. Im ersten Wunder des zweiten Teils (De tribus abbatibus a naufragio/Über drei Äbte in Seenot) ist von Alexander von Köln die Rede. Alexander war von 1168 bis 1178 Abt von Citeaux. Er wurde berühmt durch seine Vermittlerrolle im Streit zwischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Papst Alexander III. Er geriet mit zwei weiteren Äbten in höchste Seenot und rief die Madonna von Rocamadour an. Nach ihrer glücklichen Rettung wallfahrteten sie nach Rocamadour, vermutlich 1169 und 1170, also sogar zweimal (Corsten 1 s. u. S. 1f), um der Madonna zu danken. Von 1172 bis 1185 war Gerhard I. Abt der Benediktinerabtei auf dem Michaelsberg in Siegburg. Sein Bestreben war es, Anno, den Gründer seiner Abtei auf dem Michaelsberg, zum Heiligen kanonisieren zu lassen. Zuvor pilgerte er 1181 mit dem Kanoniker Goderam aus Bonn und „einem seiner Mönche“ nach Rocamadour und St. Gilles. Danach suchte er die Benediktinerabtei Grammont bei Limoges auf, um mit den dortigen Mönchen eine Gebetsgemeinschaft zu begründen. Es ist naheliegend, dass es zu gegenseitigen Besuchen kam. Mindestens einer davon ist überliefert: Noch im Jahre 1181 machten zwei Mönche aus Grammont einen Gegenbesuch in Siegburg, Bonn und Köln, um dort Reliquien der Hl. Ursula für ihre Abtei abzuholen (Corsten 2 s. u. S. 29). Der Bericht darüber ist erhalten: das „Itinerarium Fratri Grandimontensium.“ Weshalb es Abt Gerhard von Siegburg wichtig war, St. Gilles und Rocamadour aufzusuchen, beschreibt Mauritius Mittler mit wenigen aber treffenden Worten: „Der Abt hat sich dort sicher umgesehen, wie man so etwas macht, nämlich Heiligenverehrung!“ (Mauritius Mittler 2 S. 46) Dann fährt Pater Mauritius fort: „Zu eindeutig ist der Einfluss der beiden Mirakelbücher von St. Gilles und Rocamadour auf die sprachliche Gestaltung des dann nach 1183 geschriebenen Siegburger Mirakelbuchs.“ In seinem Kommentar (Mauritius Mittler 1 S. 35ff) führt Pater Mauritius über vier Seiten hinweg Zitate auf, die zeigen, dass der Schreiber in Siegburg die Wunderbücher von Rocamadour und St. Gilles kannte. (Dass kurz darauf Anno heilig gesprochen und Siegburg Wallfahrtsort wurde, dürfte nicht wenigen in unserem Raum bekannt sein.) Für unser Thema „Petrus Iverni von Sieglar“ ist der Besuch Abt Gerhards in Frankreich meines Erachtens von herausragender Bedeutung, zeigt er doch, wie eng die Beziehungen trotz des Abstands von 1000 km damals waren.

Doch waren das nicht die einzigen Besuche von Rheinländern in Rocamadour. Hertmann von Cleve, dem eine Lanze so ins Auge gedrungen war, dass er sich nicht davon befreien konnte, wurde nach Anrufung der Madonna gerettet und dankte ihr in Rocamadour (30. Wunder des ersten Teils: De altero qui lancea transfixus est/ Von einem anderen, der von einer Lanze durchbohrt wurde; Edmond Albe S. 138). Ein anderer Rheinländer, einer der später weltberühmt wurde, besuchte kurz vor 1200 Rocamadour und soll sich dort fürs Mönchsleben als Zisterzienser entschieden haben. Es war Caesarius von Heisterbach, der später unter anderem eine Biographie mit Wunderberichten über Erzbischof Engelbert I. von Köln schrieb. Engelbert soll demnach ab 1211 dreimal nach Rocamadour gepilgert sein. Im Wunderbuch von St. Gilles sind 50 Wunder verzeichnet. Die Hälfte davon handelt von deutschen Pilgern (Bernards S. 50). Es scheint, dass Wallfahrten von Deutschen nach Süd- und Südwestfrankreich geradezu alltäglich waren.

Wie die oben dargestellten Fakten zu bewerten sind, ist zunächst eine Frage der Sicherheit der Textüberlieferung. Und diese ist im Vergleich zu anderen Texten des 12. Jahrhunderts sehr gut. Das Wunderbuch von Rocamadour wurde, wie damals üblich, auf Lateinisch geschrieben. Den mir vorliegenden Text hat 1907 Edmond Albe herausgegeben und ins Französische übersetzt (s. u. Albe). Er benutzte dazu drei Handschriften aus der Nationalbibliothek Paris. Später fand er noch eine vierte Handschrift. Dann war es Charles Molette, der in der Nationalbibliothek und in der Bibliothek von Toulouse drei weitere Handschriften fand. Molette kam wie Albe zu dem Ergebnis, dass die Handschriften nur minimal voneinander abweichen, so dass Albe darauf verzichtete, Abweichungen aufzuführen (Albe S. 25f). Man kann also sicher sein, dass der Text so, wie er heute vorliegt, 1172 verfasst wurde.

Was aber hat es mit dem Namen Petrus Iverni de Sigelar auf sich? Ist damit überhaupt unser Sieglar gemeint? Dass es mit Sigelar, auch Syglar und im Spanischen einmal Sigrar unterschiedliche Schreibweisen gibt, ist nicht verwunderlich, da bis ins 19. Jahrhundert jeder schrieb, wie es ihm gefiel. Der Name stimmt zunächst aus einem anderen Grund skeptisch. Denn die bisher älteste bekannte Urkunde mit dem Namen Sieglar stammt aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts, und noch lange danach war eher „Lair“ gebräuchlich, wie wir ja auch heute noch den Ort „Loor“ ohne das Bestimmungswort „Sieg“ nennen. Doch warum sollte nicht gerade in der Fremde die Form „Sieglar“ verwandt worden sein? Zum Beispiel um die Herkunft im Namen deutlich zu machen, wie das weithin damals üblich war. Nahezu alle Personen, die wir aus dieser Zeit kennen, führten nach ihrem (Vor)namen den Ort ihrer Herkunft. Dass der Mönch in Rocamadour, der die Wunder aufschrieb, sich den Namen sozusagen aus den Fingern gesogen haben sollte, halte ich für die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten. Gibt es vielleicht woanders einen Ort dieses oder eines ähnlichen Namens? Mir ist trotz langen Nachforschens keiner begegnet. Erst recht keiner, der wie unsere Gegend Bezug zu Rocamadour hat. Die Reise Abt Gerhards von Siegburg ist für mich das stärkste Argument dafür, dass Petrus Iverni tatsächlich aus Sieglar kam. Verbirgt er sich vielleicht hinter der bereits oben berichteten Mitteilung, dass Abt Gerhard mit dem Bonner Kanoniker und „einem seiner Mönche“ nach Frankreich zog? Die Vermutung liegt nahe, dass der Abt den unter seinen Mönchen mitnahm, der bereits in Rocamadour gewesen war. War dieser Mönch vielleicht Petrus Iverni? War derjenige Mönch mit nach Rocamadour gereist, der später das Wunderbuch des Hl. Anno schrieb? War vielleicht Petrus Iverni auch derjenige, der das Annobuch schrieb? Oder lebte er vielleicht bei Alexander von Köln in Citeaux, von wo aus er jährlich nach Rocamadour hätte gehen können, wie im Wunder beschrieben. Leider gibt es zu all dem keinerlei Quellen. Oben wurde auch berichtet, dass Abt Gerhard eine Gebetsverbrüderung mit der Benediktinerabtei Grammont schloss. Es kam dabei zu einem Austausch von Mönchen. Und so könnte es auch möglich sein, dass Petrus Iverni als Mönch nach Grammont gekommen und fortan dort geblieben war. Da dieses nur gut 150 km von Rocamadour entfernt ist, hätte er von dort aus noch leichter jährlich bis zu seinem Tod zur Madonna gehen (und ihr eine Kerze von einem Pfund bringen) können. M. Dederichs und ich haben in Deutschland in allen in Frage kommenden Archiven gesucht, ob Petrus Iverni noch in anderen Urkunden erwähnt wird. Das Ergebnis war negativ. Das muss nicht weiter betrüben, denn in der Geschichtsschreibung gibt es viele andere Darstellungen, für die es weniger Beweise gibt als für diese. Deshalb wage ich zu behaupten: Petrus Iverni kam aus Sieglar und ist damit der erste namentlich bekannte Bürger der heutigen Stadt Troisdorf.

Wie ist es zu bewerten, dass Petrus Iverni als berühmter Spielmann bezeichnet wird?
Im Verlauf des Jahres 2005 suchte ich im Nationalarchiv und in der Nationalbibliothek in Paris ohne Erfolg nach einem Spielmann dieses Namens. Gleichzeitig wandte ich mich an Professor em. Wolf-Dieter Lange von der Universität Bonn, einen der besten Kenner der französischen Literatur des Mittelalters. Er wusste keinen Rat, und meine Suche blieb ohne Erfolg. Danach bat ich Jacqueline Pédemay, Mitglied der französischen historischen Gesellschaft der Freunde von Alphonse Dupront, in allen Archiven zu forschen, die Bezug zu Rocamadour haben. Sie bemühte sich in Rocamadour, in Tulle und schließlich auch in Cahors, der Hauptstadt des Bistums, zu dem Rocamadour gehört, um Auskünfte. Einmal schien sie dem Ziel ganz nahe, als sie von einem Heimatforscher aus Tulle erfuhr, es gäbe einen Troubadour aus dieser Zeit mit Namen Peire del Vergt, von dem ein einziger Text überliefert sei. Er könne vielleicht Petrus „Vierni“ gewesen sein. Unversehens hatte also mein französischer Kollege Heimatforscher einen Buchstabendreher von „Iverni“ nach „Vierni“ gemacht, was ja lediglich ein Tausch von „Iv“ zu „Vi“ war. Doch erwies sich dieser ziemlich unbekannte Troubadour als jemand aus der Region, nämlich aus Vergt, und leider nicht aus Sieglar. Da also von Petrus Iverni keine einzige Zeile überliefert ist, halte ich es für sicher, dass er kein Troubadour war. Zum renommierten Troubadour wurde er erst von Gautier de Coinci aus den oben dargelegten Gründen erklärt. Petrus Iverni von Sieglar war ein Pilger, ein Mönch oder Laie, der sich mühsam als fahrender Sänger ernährte, der aber vor allem der Madonna diente und damit auch die Gläubigen begeisterte. Ein vorbildlicher Sieglarer also.

 

Literaturverzeichnis:

  • Angefragte Archive und Institutionen in Frankreich:
  • Bibliothèque Nationale, Paris
  • Archiv National, Paris
  • Bibliothèque Centrale, Tulle (Anne-Marie Mourgues)
  • Bibliothèque Patrimoniale, Cahors (Nadine Righetti)
  • Père Nastorg, Recteur des Chapelains de Notre-Dame de Rocamadour
  • Musée de Tulle (Isabelle Rooryck et Luc de Goustine)
  • Les Miracles de Notre-Dame de Rocamadour au 12.e Siècle, Texte et Traduction d´après les Manuscrits de la Bibliothèque Nationale par Edmond Albe, le pérégrinateur éditeur, Toulouse 1996
  • Rocamadour, étude historique et archéologique par Ernest Rupin, le livre d´histoire-Lorisse, Paris 2001
  • Colloque de Rocamadour, 2, 1972, Luzech, impr. Boissar 1973
  • Odo de Gissey, Histoire et miracles de Notre-Dame de Rocamadour, Villefranche-d´Aveyron, Videilhié, sur l´impr. À Tulle, en 1666
  • Léon Chancerel, Frère Clown ou le jongleur de Notre-Dame, La Hutte, Lyon 1944
  • Mauritius Mittler, Abt Gerhard I. von Siegburg in: Heimatblätter des Siegkreises, Heft 86, Sonderheft 1964
  • Mauritius Mittler, Annos Heiligsprechung und Verehrung, in: Siegburger Studien XVI, Siegburger Vorträge zum Annojahr 1983, Respublica-Verlag Siegburg 1984
  • Siegburger Mirakelbuch, Einleitung und Register, hrsg. v. Mauritius Mittler, Sondergabe 1968, Geschichts- und Altertumsverein für Siegburg und den Siegkreis
  • In den Annalen des historischen Vereins für den Niederrhein erschienen:
    • Heft 125, 1934: Karl Corsten, Rheinische Pilger in Rocamadour
    • Heft 116, 1930: Karl Corsten, Eine Reise französischer Mönche nach Köln
    • Heft 120, 1932: J. Greven, Alexander von Köln
    • Heft 138, 1941: Peter Bernards, Die rheinische Mirakelliteratur im 12. Jht.
    • G. Schnürer, Die Spielmannslegende, 3. Vereinsschrift der Görresgesellschaft 1914

 

Mein besonderer Dank gilt Jacqueline Pédemay von der Société des Amis d´Alphonse Dupront für ihre Recherchen in Frankreich.